Polarkreis 18

Polarkreis 18
Pop [Frickelpop-PostRock]

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Als gut geübter Pop-Hörer – und das sind wir zweifellos – kennt man seine Pappenheimer doch ganz genau. Man errät die Frisuren schon, wenn man nur den Songtitel gehört hat. Man kann am Single-Hit sämtliche Idole einer neuen Band abzählen, und spätestens bei der B-Seite weiß man, ob das Video schwarzweiß oder bunt sein wird. Das wäre hier jetzt der Test, und an dem dürfen leider bloß die Leute teilnehmen, die die neue Band Polarkreis 18 aus Dresden noch nicht live gesehen haben: Wie sehen die wohl aus, wenn allein die Musik als Maßstab zählt
Da nehmen wir mal all unsere Fantasie zusammen: Auf ihrem ersten, selbst betitelten Album klingen Polarkreis 18 manchmal, als würden sie in dunkelblauen Daunenjacken mit Pelzkapuzen auf einer bemoosten Klippe stehen und das Wetter als Hallgerät benutzen. Manchmal klingen sie wie die gewaltigen, beweglichen Schatten im Gegenlicht eines von hinten blitzenden Stroboskops, die Köpfe teils über die Knöpfchen komplizierter Pulte gebeugt, teils in den Nacken geworfen. Ab und zu könnte man glauben, sie wären die Soundtrack-Gruppe eines mysteriösen Filmregisseurs, der sie mit Streichquartett im Bodennebel des Märchenwalds platziert hat, so dass beim Singen der Atem zu kleinen, kalten Wolken friert. Und dann wieder klingen Polarkreis 18, als ob sie alle Kerzenleuchter einer mit blutrotem Samt ausgeschlagenen Lounge angezündet haben. Und Anzüge tragen, während sie ihre Lieder spielen.

Das ist etwas eminent Besonderes, nicht erst heutzutage – dass eine neue Gruppe ankommt und gleich so viele mögliche Videos in ihr stecken. Dass ihre Musik die Vorstellungskraft der Hörer bis an alle Grenzen zieht, anstatt sie irgendwo fest zu löten. Und das, obwohl Polarkreis 18 kein sonderliches Projekt sind, sondern eine richtige Band mit fünf richtigen Köpfen. Eine Band, die nicht etwa im Sound ihrer Musik verschwindet, die es aber trotzdem schafft, über sich selbst hinauszuweisen. Deren Songs etwas Transzendentes haben, das einem beim Hören die Augen nach innen stülpt, das alle Tonarten neu stellt, wie auf einer großen Uhr. Genau der Punkt übrigens, an dem die Leute immer anfangen, alles nur noch in Form von Natur-Metaphern und Urlaubsfotos zu erklären. Beim Lesen nervt das manchmal, beim Hören sind das aber die brillantesten Sachen überhaupt.

Da machen wir’s doch lieber konkret: Polarkreis 18 sind eine Gitarrenband mit Keyboards oder eine Keyboardband mit Gitarren, sie spielen in großen Hallräumen, sie legen die Akkorde wie Perlenketten aus, überlassen die Soli gelegentlich den Streichern, stanzen die Klangflächen mit chemischen Beats oder feierlichen Fackeln, machen zärtlichen Lärm und nervös juckende Stille. Die Stimme: ein Wesen mit eigenem Leben und Geschlecht, gut hörbar atmend, beweglich wie Quecksilber, entrückt vom irdischen Dreck, trotzdem fähig, vor lauter Kraft die Wolken zu zerteilen. Tja, jetzt sind wir doch in die Natur-Metaphern geschlittert, also mal Pop-historisch ausgedrückt: Man hört vielleicht Echos von großen Bands aus England und Island, denkt an die elektronische Avantgarde oder den allertollsten Synthie-Pop, an die so genannten Shoegazer-Bands und eben an alle, denen die selbst an gemischte, unverwechselbare Klangfarbe mindestens so wichtig war wie der Song. Oder, noch nahe liegender: Polarkreis 18 sind Felix Räuber Gesang, Gitarre, Klavier, Philipp Makolis Gitarre, Klavier, Christian Grochau Schlagzeug, Uwe Pasora Bass und Bernhard Wenzel Elektronik, Keyboard. Alle Anfang 20, aus Dresden.
Die Geschichte der Band ist selbst – so ähnlich wie die Musik, die sie heute machen – eine Folge von Verdichtungen, Driftbewegungen, großen Plänen und spontanen Eingebungen. Und die Details und Wendungen sind so zahlreich, das wir uns hier aufs Wesentliche beschränken, zum Beispiel auf die Gründung des allerersten Vorläufers im Jahr 1997, der damals aus Felix, Bernhard und Uwe bestand. Eine Schülerband mit Interesse an Schrammelmusik und einem Debüt-Konzert, das an Weihnachten im engen Familienkreis stattfand. Die Phase des Abreagierens und Instrumente - Lernens, die sich in einem wesentlichen Punkt mit der heutigen Attitüde deckt: Sie waren hundertprozentig überzeugt von dem, was sie spielten. Sie hatten und haben eine Vision – Außenstehende würden vielleicht sagen: Polarkreis 18 waren und sind ein bisschen wahnsinnig. Wie wir das meinen Wird gleich erklärt.

Anfang des Jahrtausends kam der musikalische Umschwung ins eher Experimentelle, inspiriert vom Post-Rock aus Chicago und anderen Abenteuerlustigen. Der regionale Erfolg wuchs, gleichzeitig bauten die Freunde ein Studio auf, fuchsten sich in die elektronischen Aspekte hinein, gaben sogar ein paar Laptop-Konzerte. Zu der Zeit wurde auch der endgültige Bandname gewählt – „Polarkreis 18“. Als Mitte 2005 Philipp und Christian zur Gruppe stießen, war die Rückkehr zum Live – Band -Konzept beschlossen. Polarkreis 18 traten mit Streichern und Bläsern auf, kürzlich öffnete sogar das Dresdener Schauspielhaus seine Vorhänge für ein Galakonzert von Polarkreis 18. Stehende Ovationen von den über 1000 Zuhörern: Man darf sicher sein, dass Popgruppen die Ehre nur ganz, ganz selten widerfährt.

Aber das sollte mittlerweile klar sein: Eine simple Popgruppe ist das nicht. Denn genau hier liegt das, was wir den Wahnsinn von Polarkreis 18 genannt haben: die Chuzpe, so sehr an ihre eigene Kunst zu glauben, dass sie sich Unglaubliches zutrauen. Und es immer schaffen. Kein Groß-Arrangeur, kein künstlerischer Berater steht hinter dieser Band, die selbst für Popverhältnisse extrem jung ist – sie haben ihr Debütalbum nicht nur selbst produziert, sie liefern auch alle graphischen Ideen, alle Konzepte, jeden Notenstrich auf der Geigenpartitur. Die bildende Kunst haben Polarkreis 18 nie wie eine penible Tante dabei, sondern immer wie eine hübsche Cousine – der so genannte „Klangfilm“, der bei Konzerten gezeigt wird, ist ein schönes Stück Selfmade - Video-Art. Wer aber bei Polarkreis 18 die Augen schließt, läuft Gefahr, einiges zu verpassen – aber man kann jeden verstehen, der die Welt lieber vergessen will, wenn diese Musik kommt.

Aber jetzt bitte mal Pelzmützen runter, Ohrenschützer weg und Handschuhe aus, denn am Polarkreis wird es warm. Alle Fische sind frisch poliert, das Eis schmeckt heute nach Himbeere.

Die Expedition mit Polarkreis 18 startet ja erst. Wie gesagt: Es wird eine wahnsinnige Erfahrung werden.

track4 - Rezension zu Polarkreis 18

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